Vom Probieren zum Konstruieren

Vom Probieren zum Konstruieren

Like This Video 1 Susanne
Added by 24. April 2016


 

Wie die Mini-Chemiefabrik in einem Kolibakterium funktioniert

 

In einem Kolibakterium befinden sich rund viertausend Proteine, die in jeder Sekunde unzählige Zwischenprodukte, sogenannte Metaboliten, umwandeln. Dem Verständnis über den komplexen Stofffluss in einer Zelle sind Systembiologen jetzt auf der Spur – Grundlagenwissen über die Mini-Chemiefabrik mit hoher Relevanz für die Biotechnologie.

 

Sprechertext der Moderation:

Vorausschauendes Handeln gilt beim Menschen als Intelligenzleistung. Er plant seine Zukunft bewusst und berücksichtigt dabei mögliche Auswirkungen seines Tuns. Doch auf Eventualitäten vorbereitet zu sein, ist in der belebten Natur keine Leistung, die Bewusstsein braucht. Niedrigere Lebewesen können das auch – die Evolution hat sie hat sie dafür mit weitgehend unbewussten Instinkten ausgestattet: Die Maus legt einen Nahrungsvorrat an, um durch den Winter zu kommen. Sogar jede einzelne Zelle bereitet sich auf schlechte Zeiten vor. Wie genau das funktioniert, ergründet die Forschergruppe um Uwe Sauer. Mehr dazu jetzt gleich.

Sprechertext der Reportage:

Kolibakterien sind bei Mikrobiologen sehr geliebt. Sie zeichnet ein relativ kleines Genom aus. Es wurde deshalb schon früh vollständig entschlüsselt. Kolibakterien eignen sich daher besonders gut fürs genetische Experimentieren im Mikrolabor. Ein scheinbar einfacher Organismus also; doch bis vor einigen Jahren war dennoch völlig unklar, welche Prozesse darin tatsächlich ablaufen. Denn Zellen sind komplexe Gebilde. In jedem dieser Kolibakterien befinden sich nicht weniger als rund viertausend höchst unterschiedliche Proteine in permanenten biochemischen Umwandlungen. Jedes einzelne dieser Proteine hat die Natur für eine ganz spezifische Aufgabe ausgebildet, wie mir der Molekularbiologe Uwe Sauer gleich erläutern wird.

Prof. Dr. Uwe Sauer, Institutsleiter für Molekulare Systembiologie, ETH Zürichstrong>

Auf dem Industrial Biotechnology Forum 2016 an der TU München erläutert Sauer, wie er diesen Mechanismen mit seinem Team auf der Spur ist. Er untersucht, wie es die winzige Zelle damit schafft, ihre chemischen Prozesse so zu regulieren, dass sie auf unterschiedliche Eventualitäten schnell und ressourcenschonend reagieren kann. Wer versucht das zu erforschen, arbeitet an den Grenzen der modernen Mikrobiologie. Denn um diesen komplexen Stoff-Fluss in einer Zelle en Detail beobachten zu können, fehlten bis vor kurzem geeignete Methoden und Technologien. Dagegen ist das statische Bild des Netzes biochemischer Umwandlungen in einer Zelle schon länger bekannt. Selbst dieses mutet für den Außenstehenden reichlich verwirrend an, der Metabolit-Forscher bleibt da jedoch gelassen – denn er denkt auf dynamischer, und daher noch deutlich komplexerer Ebene.

Prof. Dr. Uwe Sauer, Institutsleiter für Molekulare Systembiologie, ETH Zürichstrong>

Den Stand dieser Dinge zeigt der Titel von Sauers Vortrag: Es ist heute eher ein Herumbasteln, ein spielerisches Konstruieren – echtes Ingenieurstum jedenfalls noch nicht. Warum das so ist? Die Metaboliten sind der zentrale Schlüssel für das Verständnis der komplexen zellulären Umwandlungsprozesse – eine Art „Netzwerk-Marker“. Doch sie verhalten sich wie Chimären, ändern ihre Zustände ständig. So konnten sie sich der Beobachtbarkeit und damit auch der Interpretierbarkeit durch die Wissenschaft lange weitgehend entziehen.

Bleiben wir beim Beispiel des Kolibakteriums: In den rund viertausend Proteinen des Einzellers laufen hunderte von metabolischen Reaktionen gleichzeitig ab. In jeder dieser Reaktionen werden in jeder Sekunde hundert bis tausend Metaboliten umgesetzt – gesteuert von vielschichtigen Regulationsprozessen. Klar, dass für den „metabolischen Ingenieur“ die Wirkungen von Eingriffen in diese Mini-Chemiefabrik praktisch nicht vorherzusagen sind. Sauer will das ändern – und hat mit seinem Team über Jahre ein gänzlich neues Experimentalset entwickelt. Es erlaubt die äußerst schnelle Analyse von hunderten intrazellulären Metaboliten. Mit ihr lassen sich die metabolischen Prozessketten jetzt fast in Echtzeit parallell und en Detail beobachten. Für die Interpretation dieser Daten hat das Team zudem eigene Computermethoden entwickelt. Den Forschern in Zürich gelang damit 2015 ein wichtiger Nachweis, nämlich: dass – und vor allem, wie genau – Zellen Hungerphasen überstehen und sich trotzdem aufs sofortige Wachstum vorbereiten. Einfach herstellbare Metaboliten werden in Energie umgewandelt; komplizierte Aminosäuren dienen als Energiespeicher und werden als Startvorteil aufbewahrt, wenn sich die Bedingungen gebessert haben.

Solche Forschung an den Grenzen unseres Wissens verlangt inzwischen nach einem neuen Typ des Biologen. Er muss die Trennlinie zwischen Experiment und Theorie überwinden.

Prof. Dr. Uwe Sauer, Institutsleiter für Molekulare Systembiologie, ETH Zürichstrong>

Etwas pointierter formuliert: Daten durch die Beobachtung der sichtbaren Natur mühsam zu sammeln und zu versuchen, sie anschließend theoretisch zu durchdringen – das war Biologie von vorgestern.

Seit vielen Jahrzehnten erschließen Mikro- und Molekularbiologie sowie wie Biochemie die immer kleinere Dimensionen der Natur – das auch dank einer steigenden Zahl von HighTech-Verfahren. Seit kurzem haben nun mächtige Technologien zur Datengenerierung Einzug in die biologische Forschung genommen. Gebot der Stunde ist es jetzt, den mächtigen Datenberg beherrschbar zu machen.

Prof. Dr. Uwe Sauer, Institutsleiter für Molekulare Systembiologie, ETH Zürichstrong>

Die Biologie wird zur Systembiologie. Und damit rückt erstmals die Modellbildung des Lebens in den Bereich des Möglichen. Doch da gehört Uwe Sauer nicht gerade zu den Himmelsstürmern, sondern zu den vorsichtigen Geistern, die lieber mehr auf Pragmatismus setzen.

Prof. Dr. Uwe Sauer, Institutsleiter für Molekulare Systembiologie, ETH Zürichstrong>

Erstsendung: Januar 2016

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